Geophysik: Wie Glasfaserleitungen bei der Erdbebenfrühwarnung helfen
Erdbeben lassen sich weder verhindern noch vorhersagen. Entsprechend wichtig ist es, Vorsorge zu treffen, um so katastrophale Folgen zu vermeiden wie in Syrien und der Türkei nach dem Beben Anfang Februar 2023. Dazu gehört es etwa, erdbebensicher zu bauen, damit Gebäude nicht kollabieren und Menschen unter sich begraben. Mindestens genauso wichtig ist ein Frühwarnsystem, das es ermöglicht, Menschen rechtzeitig aufzufordern, ihre Häuser zu verlassen, Pipelines zu schließen, Kraftwerke herunterzufahren und medizinische Operationen zu unterbrechen.
Das Prinzip: Sobald in der Landschaft installierte Seismometer die ersten Erschütterungen erfassen, leiten sie den Alarm automatisch mit Lichtgeschwindigkeit an die nächste Großstadt weiter. Da die stärkeren, sekundären Erdbebenwellen, von Fachleuten auch als Scherwellen bezeichnet, langsamer sind, bleiben den Verantwortlichen ab diesem Moment einige Sekunden, um die Bevölkerung zu warnen.
Je mehr Seismometer verfügbar sind, umso früher werden Erdbeben erkannt, und so wird wertvolle Zeit gewonnen. Anstatt jedoch viele solche Spezialapparate aufzubauen, könnten auch bereits vorhandene Glasfaserkabel diese Aufgabe übernehmen. Die zigfach im Boden verlegten Kommunikationsleitungen gelten in der Geophysik als viel versprechendes Werkzeug und werden zu dem Zweck gerade intensiv erforscht.
In eine einzelne Glasfaser werden fortwährend Laserpulse hineingeschickt. Keine Faser ist perfekt, überall gibt es kleine Störstellen, an denen ein Teil des Laserlichts zurückgeworfen wird. Aus der Laufzeit der reflektierten Pulse berechnet ein Computer, wo genau sich die Störstellen befinden. Kommt eine Erdbebenwelle angerollt, wird das Kabel ein wenig gedehnt oder gestaucht. Diese Längenänderung zeigt sich in den Daten des reflektierten Laserlichts. Daraus lassen sich Ort und Stärke der Erschütterungen ermitteln – und das sehr genau.
Noch ist das Verfahren im Forschungsstadium. Ein Problem sind die enormen Datenmengen. Schnell kommen bei der Glasfaserseismologie hundertmal so viele Messwerte zusammen wie bei herkömmlichen Methoden. Das erfordert jede Menge Speicherplatz und Rechenleistung. »Gerade bei Echtzeitanwendungen wie Frühwarnsystemen ist das problematisch«, sagt Philippe Jousset, der diese Technologie am Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam vorantreibt. Man arbeite unter anderem an besseren Algorithmen, um die Menge sinnvoll zu reduzieren und beherrschen zu können. Zudem muss gewährleistet sein, dass die Kabel gut in die Erdschichten eingebunden sind. Je besser diese Kopplung, desto genauer die Messung.
Auch für die Erkennung von Seebeben geeignet
Unter Experten werde diskutiert, ob verlegte Telefonkabel das leisten können, berichtet Jousset. »Wir haben Experimente mit bestehenden Leitungen gemacht, auf Island und in Dörfern am Ätna, und haben gute Resultate erhalten«, sagt der Geophysiker. Er ist optimistisch, dass die Technologie eines Tages praxistauglich ist und vorhandene Glasfasernetze genutzt werden können, um Menschen frühzeitig vor Beben zu warnen.
Dies gilt nicht nur an Land, sondern insbesondere für Beben unter dem Meer. Denn dort sind herkömmliche Seismometer selten. Ehe die seismischen Wellen die Apparate an Land erreichen, geht zu viel Zeit verloren. Nutzte man die bereits verlegten Kabel am Meeresgrund, wäre die Überwachung genauer. In einer aktuellen Studie haben Forscher um Itzhak Lior von der Hebräischen Universität in Jerusalem Erdbeben vor Chile, Frankreich und Griechenland analysiert, die von Glasfasern erfasst wurden. Die Technik sei zuverlässig, schreiben sie in den »Scientific Reports«. Die Vorwarnzeit sei um bis zu eine halbe Minute länger, verglichen mit Instrumenten auf dem Festland.
Die Kabel sind nicht nur für Frühwarnsysteme interessant, sondern auch, um die seismische Gefährdung einzuschätzen. Dazu müssen Forscher ermitteln, wo es im Untergrund Bruchzonen gibt, wie oft und mit welcher Stärke die Erde bebt. Kleine, von Menschen nicht wahrnehmbare Erschütterungen sind für solche Statistiken ebenfalls hilfreich. Mit herkömmlicher Technik bräuchte es viele Seismometer, die beschafft, aufgestellt und nicht zuletzt vor Diebstahl und Beschädigung zu schützen sind. Gerade in Städten wären die zahlreich verlegten Glasfaserkabel eine bessere Alternative, die weitaus mehr »virtuelle« Sensoren bietet und zugleich robust und billiger ist.
»Wir benötigen von jedem Kabel nur eine ungenutzte Faser«, sagt Andreas Fichtner von der ETH Zürich. Die sei eigentlich immer verfügbar, weil die Betreiber mehr Kapazität verlegen lassen, als aktuell gebraucht werde. »Das größere Problem besteht darin, die richtigen Personen zu finden, die unser Vorhaben unterstützen und die Nutzung genehmigen.« Oft gebe es Skepsis, Angst vor Spionage oder die Sorge, dass die Leitung beschädigt wird. Die Netzbetreiber in Athen immerhin konnten die ETH-Seismologen überzeugen und erhielten so einen präzisen Einblick in den seismischen Untergrund der griechischen Stadt.
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